Der Dritte Orden (OFS) im 20. Jahrhundert -
Vier Lebensbilder
Wenn man an franziskanische Heilige denkt, hat man vor allem die Gründungsphase des Ordens im 13. Jahrhundert im Sinn. Dabei vergisst man schnell, dass es in allen Jahrhunderten Menschen gab, die das franziskanische Charisma glaubhaft und überzeugend in ihrer jeweiligen Zeit gelebt haben. Auch im 20. Jahrhundert gab es Mitglieder des Dritten Ordens, die uns in ihrem Lebensweg Vorbilder sein können, und die bleibende Impulse auch für unsere Zeit hinterlassen haben.
Im folgenden habe ich exemplarisch vier kurze Biographien von Menschen aufgeschrieben, die dem dritten Orden, also der Franziskanischen Gemeinschaft (OFS) angehört haben. In ihrem Wirken wird deutlich, wie wichtig die franzikanische Spiritualität auch heute noch ist und welch kraftvolle und kreative Lebensimpulse der hl. Franz von Assisi auch heute noch gibt. Diese vier stehen stellvertretend für tausende von Schwestern und Brüdern in der Franziskanischen Gemeinschaft auf allen Kontinenten, die auf unauffällige und schlichte Weise versucht haben, die franziskanischen Ideale in ihrem Leben zu verwirklichen.
Franz Jägerstätter - Kriegsdienstverweigerer im 2. Weltkrieg
Ellen Ammann - mit franziskanischen Idealen für die katholische Frauenbewegung
Louis Massingnon - Brückenbauer im christlich-islamischen Dialog
Johannes XXIII. - Der Papst des 2. Vatikanischen Konzils
Franz Jägerstätter - Kriegsdienstverweigerer im 2. Weltkrieg
Franz Jägerstätter wurde am 20. Mai 1907 in St. Radegund in Oberösterreich geboren. Da er unehelich geboren wurde, hieß er zunächst Franz Huber, bis seine Mutter den Bauern Heinrich Jägerstätter heiratete, der ihm ein guter Stiefvater war, und dessen Namen er erhielt. Als junger Mann arbeitete er als Bergarbeiter, und als sein Stiefvater 1930 kinderlos starb, übernahm er den Hof. 1933 wurde er unehelicher Vater eine Tochter. Obwohl es zu keiner Eheschließung mit der Mutter kam, erkannte er die Vaterschaft an, sorgte für das Mädchen und besuchte es regelmäßig. 1936 heiratete er Franziska Schwaninger. Die beiden verzichteten auf eine Hochzeitsfeier und machten eine Pilgerreise nach Rom. Der Ehe entstammten die drei Töchter Maria, Aloisia und Rosalia.
Nach der Hochzeit beschäftigte er sich immer intensiver mit dem christlichen Glauben, las in der Bibel und besuchte oft die hl. Messe. Im Nationalsozialismus, der damals auch in Österreich immer stärker wurde, erkannte er eine dem christlichen Glauben zutiefst entgegengesetzte Weltanschauung. Bei der Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs an Deutschland gab er die einzige Nein-Stimme des ganzen Ortes ab. Sein Widerstand gegen den Nationalsozialismus zeigte sich zunächst darin, dass er sich aus dem öffentlichen Leben seiner Gemeinde immer mehr zurückzog, Vergünstigungen durch die NSDAP nicht in Anspruch nahm und nichts für die Partei spendete, obwohl er sonst sehr freigiebig war.
1940 wurde er zur Grundausbildung für die Wehrmacht einberufen. Er kam dieser Einberufung nach, erkannte aber in dieser Zeit, dass es mit seinem christlichen Gewissen nicht vereinbar war, für den nationalsozialistischen Staat zu kämpfen. Gemeinsam mit einem Kameraden trat er in den dritten Orden ein. Er wurde zunächst freigestellt, weil er auf seinem Hof unabkömmlich war. In dieser Zeit äußerte er öffentlich, dass er bei einer Einberufung den Wehrdienst verweigern würde. Seine gesamte Umgebung, und sogar der Bischof persönlich, versuchten ihn umzustimmen, aber Franz Jägerstätter hielt an seiner Gewissensentscheidung fest. Nur seine Frau Franziska unterstütze ihn in seiner Haltung.
Als er im Februar 1943 die Einberufung erhielt, meldete er sich an der Stelle, erklärte aber, den Dienst mit der Waffe zu verweigern. Er wurde nach Linz ins Untersuchungsgefängnis gebracht, wo er zum ersten Mal erfuhr, dass auch andere den Kriegsdienst verweigerten und Widerstand leisteten. Am 4. Mai wurde er nach Berlin Tegel verlegt, von einem Kriegsgericht wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt und am 9. August hingerichtet.
Franz Jägerstätter war ein Mann mit prophetischem Mut. Zu einer Zeit, als die katholische Kirche noch in einem falschen Gehorsamsverständnis gefangen war und ihre Mitglieder zu einer aktiven Teilnahme an einem Vernichtungsfeldzug anhielt, vertraute er den Gewaltlosigkeit und Opferbereitschaft des Evangeliums. Der falschen Loyalität gegenüber Staat und Obrigkeit hielt er die richtige Loyalität gegenüber Jesus Christus entgegen. Obwohl er keinerlei Unterstützung durch die kirchliche Hierarchie seiner Zeit erfuhr, hielt er an seiner
Gewissensentscheidung fest, ohne aber die Kirche zu kritisieren. Am 26. Oktober 2007 schließlich wurde Franz Jägerstätter im Linzer Mariendom selig gesprochen. Sein Gedenktag ist der 21. Mai, sein Tauftag.
Ellen Ammann - mit franziskanischen Idealen für die katholische Frauenbewegung
Ellen Ammann wurde am 1.7.1870 in Stockholm als Ellen Sundström geboren. Ihr Vater war ein vielseitiger Mann, der als Lehrer arbeitete, aber auch als Ornithologe und politischer Journalist tätig war. Ihre Mutter fühlte sich zur katholischen Kirche hingezogen und war bereits vor Ellens Geburt konvertiert, ohne dies öffentlich zu machen. Ellen und ihre Schwester wurden zwar protestantisch getauft, aber katholisch erzogen und besuchten die „Fransk Skola“, die von Ordensschwestern geleitete französische Schule in Stockholm.
Ein Jahr nach ihrem Abitur starb Ellens Vater. Sie lernte den Münchener Orthopäden Dr. Ottmar Ammann kennen, der bei der Familie zur Untermiete wohnte, um sich in der berühmten schwedischen Heilgymnastik fortzubilden. Im Jahre 1890 heirateten sie und zogen nach München, wo Ottmar Ammann eine orthopädische Privatklinik leitete. Ellen Ammann kümmerte sich um die wirtschaftlichen Belange der Klinik und wurde zwischen 1892 und 1903 Mutter von sechs Kindern.
Trotz ihrer vielen familiären Aufgaben vertiefte sie nicht nur ihr spirituelles Leben, sondern verfolgte außerdem aufmerksam die gesellschaftlichen Probleme, die mit der sozialen Frage und mit der Frauenbewegung zusammenhingen. Im Jahr 1895 trat sie dem Marianischen Mädchenschutzverein bei und gründete 1897 zusammen mit anderen Frauen die Münchener Bahnhofsmission, die sich besonders um die vielen vom Lande kommenden jungen Frauen kümmerte, die in ihrer Naivität oft schon am Bahnhof von professionellen Banden und Mädchenhändlern abgefangen wurden.
Da sich ihr Weitblick und ihr Organisationstalent herumsprach, wurde sie 1903 zur Gründung des Deutschen Katholischen Frauenbundes, der ersten deutschlandweiten Organisation für katholische Frauen, nach Köln eingeladen. Ein Jahr später gründete sie den bayrischen Zweigverein in München. Um der Arbeit der ehrenamtlichen Helferinnen eine solide Grundlage zu geben, initiierte sie Ausbildungskurse für die sozial-karitative Tätigkeit, die im Jahre 1916 zur Anerkennung als zweijährige Schule führten.
Ellen Amman wollte der sozialen Arbeit aber nicht nur eine organisatorische und wissenschaftliche Grundlage, sondern auch eine Verankerung im christlichen Glauben geben. Deshalb begann sie mit einigen befreundeten Frauen im Jahr 1914 ihr Noviziat im 3. Orden der Kapuziner in München, das sie 1916 mit der Profess (dem Versprechen) abschloss. Darauf aufbauend förderte sie die Entstehung einer Gruppe von Frauen, die nichtklösterlich, aber ehelos lebten. Diese Vereinigung wurde 1919 als „Vereinigung Katholischer Diakoninnen“ (was hier nicht im Sinne des Weiheamtes zu verstehen ist) vom Münchener Kardinal Faulhaber anerkannt. Dieser Gemeinschaft blieb sie, obwohl ja selber verheiratet, als Leiterin bis zu ihrem Tod verbunden.
Im selben Jahr 1919, in der bewegten Zeit zahlreicher Revolutionen und Umsturzversuche, wurde sie Landtagsabgeordnete für die Bayrische Volkspartei. Sie setzte sich immer wieder besonders für Frauen, Familien und Notleidende ein. 1923 war sie führend beteiligt an der Niederwerfung des Hitler-Putsches in München. Die verfassungstreuen Minister trafen sich in ihrer Frauenschule und koordinierten den Widerstand gegen den Putsch.
Ihre Arbeit als Landtagsabgeordnete und die von ihr gegründete Gemeinschaft katholischer Diakoninnen blieben bis zu ihrem Tod das Zentrum ihres Wirkens. Am 23.11.1932 starb sie an nach einer Landtagsrede an einem Schlaganfall. In ihrer letzten Rede hatte sie sich einmal mehr für kinderreiche Familien eingesetzt und vor den Gefahren des Nationalsozialismus gewarnt. Ellen Ammann wurde auf ihren Wunsch hin im Ordenskleid der Kapuziner-Terziarinnen aufgebahrt und am 25.11.1932 unter großer Teilnahme der Münchener Bevölkerung, vor allem der Armen, beigesetzt.
Louis Massignon - Brückenbauer im christlich-islamischen Dialog
Louis Massignon wurde am 25.7.1883 in Nogent-Sur-Marne in der Nähe von Paris geboren. Sein Vater war Bildhauer und Freidenker und so wuchs auch Louis Massignon fern von der Kirche auf. Nach dem Abitur begann er, Geographie zu studieren und interessierte sich besonders für die französischen Kolonialgebiete in Nordafrika. Dies motivierte ihn dazu, die arabische Sprache zu lernen.
Im Jahr 1907 begab er sich auf eine archäologische Expedition in den Nahen Osten. Nach einem Aufenthalt in Kairo reiste er weiter nach Bagdad, wo er von der Gastfreundschaft der ihn beherbergenden Familie sehr berührt war. In Bagdad kam es zu dem entscheidenden und dramatischen Wendepunkt in seinem Leben. In den Wirren des zerfallenden osmanischen Reiches wurde er nach einem Kamelritt durch die Wüste als Spion festgenommen, verhört und mit dem Tode bedroht. Die Nacht verbrachte er gefesselt im Gefängnis, ein hohes Fieber brachte ihn an den Rand des Todes. In dieser Situation sprach ein Muslim über ihm die Koran-Sure, die im Islam den Sterbenden gesagt wird. Dies löste ein visionäres Gotteserlebnis bei Louis Massignon aus. Gott kam zu ihm als eintretender fremder Gast und als Richter über sein bisheriges Leben. Einige Zeit später kam es zu einer zweiten Vision, in der sich Gott ihm als der unendlich liebende und heilende Gott des Christentums offenbarte.
Langsam erholte sich Louis Massignon von der Krise und wurde schließlich freigelassen. Sein Leben lang blieb er dankbar dafür, dass der Islam den Anstoß zu seiner Bekehrung gegeben hatte. In Frankreich engagierte er sich im Dialog mit dem Islam (der damals nur ein wissenschaftlicher und kein theologischer war). Er nahm Kontakt zu Charles de Foucault auf, der in Algerien eine Mission der stillen Präsenz unter den Muslimen verfolgte. Er schrieb sein wissenschaftliches Hauptwerk über den islamischenMystiker al-Hallaj und wurde 1922 Professor für Islamwissenschaften in Paris. Er knüpfte ein weitverzweigtes Netz an Kontakten zu westlichen und islamischen Gelehrten und Gläubigen und setzte sich für gegenseitigen Respekt und Verständigung ein. Einer seiner für die damalige Zeit ganz neuen Grundgedanken war, dass Gott die Menschen auch innerhalb des Islam ansprechen und zu sich führen kann. Ziel einer Begegnung mit Muslimen war dadurch also nicht unbedingt, sie zu einer möglichst raschen Konversion zum Christentum zu bewegen. Nach anfänglichem Misstrauen hat sich dieser Gedanke in der Kirche immer weiter durchgesetzt und die Haltung des 2. Vatikanums zu den Muslimen maßgeblich mit bestimmt.
Immer wieder beschäftigte er sich mit der Person des hl. Franziskus, in dessen Besuch im Orient er ein Vorbild für sich sah. (Siehe: Franziskus und der Islam ) Schließlich ließ er sich 1931 in den 3. Orden aufnehmen. Er gründete eine Gebetsgemeinschaft, in der Christen stellvertretend für Muslime beten sollten. Die Erlösungstat Jesu Christi sollte dadurch auch für die Muslime fruchtbar werden. Gegen Ende seines Lebens trat er mit Erlaubnis des Vatikans in die melkitisch-katholische Kirche über, um die hl. Messe auch auf arabisch feiern zu können und so der Kultur, der er seine Bekehrung zum Christentum verdankte, näher sein zu können. Er starb am 31.10.1962.
Louis Massignon hat eine bleibende Bedeutung als Wissenschaftler in der europäischen Islamwissenschaft. Vor allem aber hat er eine Bedeutung als jemand, der voll und ganz seinen christlichen Glauben bekannte, seinen muslimischen Gesprächspartnern aber dennoch mit Respekt, Liebe und einer tiefen Achtung vor ihrer Kultur und ihrem Glauben gegenübertrat. Auch auf islamischer Seite gilt Louis Massignon bis heute als ein Mensch, mit dem Dialog und Freundschaft möglich war. Hier können wir als FG-Mitglieder in einer Zeit, die Muslimen generell mit Misstrauen gegenübertritt und in der der Islam auf seine fundamentalistische Variante reduziert wird, anknüpfen. Auch unsere Zeit braucht Brückenbauer; Menschen die bereit sind, sich auf das Andere und Fremde einzulassen, aber darüber ihre eigene Identität nicht verlieren.
Johannes XXIII. - Der Papst des 2. Vatikanischen Konzils
Am 25. November 1881 wurde der spätere Papst Johannes XXIII. als Angelo Roncalli in dem kleinen norditalienischen Dorf Sotto Il Monte geboren. Er war das vierte Kind und der erste Sohn einer kinderreichen Bauernfamilie. Seine Herkunft und seine Familie hat er nie vergessen, sondern immer mit Dankbarkeit an sie gedacht. Schon früh wurde sowohl seine Begabung und Intelligenz als auch sein religiöses Interesse erkannt, so dass er durch die Vermittlung des örtlichen Priesters ein Stipendium für das bischöfliche Gymnasium in Bergamo bekam. Dort studierte er auch Theologie und wurde am 10. August 1904 zum Priester geweiht.
Seine ersten Jahre als Priester verbrachte der junge Roncalli als persönlicher Sekretär des bergamasker Bischofs RadiniTedeschi. Dieser war in seiner Grundhaltung liberal und stand vor allem den sozialen Problemen, die damals Europa bewegten, sehr aufgeschlossen gegenüber. Da der gleichzeitig regierende Papst Pius X. (Namensgeber der heutigen Traditionalistenbewegung) sehr konservativ eingestellt war, lernte Roncalli schon früh das große Meinungsspektrum in der katholischen Kirche kennen. In dieser Zeit ließ er sich auch in den Dritten Orden, die franziskanische Gemeinschaft, aufnehmen. Zeitlebens war ihm diese Verbindung zur franziskanischen Spiritualität wichtig und er sprach oft darüber.
Nachdem er von 1915 an im ersten Weltkrieg als Militärseelsorger gedient hatte, wurde er 1921 nach Rom versetzt, wo ihm die Leitung des päpstlichen Missionswerkes für Italien übertragen wurde. Im Jahre 1925 wurde er dann als päpstlicher Gesandter nach Bulgarien, und von 1934 an in die Türkei geschickt. Beide Posten waren zwar nominell nicht unehrenhaft, in Wirklichkeit aber ohne Einfluss und weitab von jeder Möglichkeit, das Leben der Kirche mitzugestalten. Dies wurde von vielen mit guten Gründen als das Abschieben eines Menschen angesehen, dessen Loyalität zwar außer Zweifel stand, dessen geistige Offenheit und natürliche Liberalität im damaligen Vatikan aber mit Misstrauen beobachtet wurden. Als Papst ließ sich Johannes XXIII. einmal seine Personalakte kommen, in die er vorher nie Einsicht hatte. Er fand dort den Vermerkt: „Des Modernismus verdächtig.“, worunter er handschriftlich ergänzte: „Ich, Papst Johannes XXIII., erkläre, dass ich nie Modernist gewesen bin.“
Wesentlich für diese Phase seines Lebens, die immerhin den größten Teil seiner beruflichen Laufbahn einnahm, ist einerseits die unerschütterliche Loyalität und Demut, mit der er sich in die kirchliche Hierarchie einfügte, aber andererseits auch die Tatkraft und Kreativität, mit der er seine Stellung ausfüllte, und die in Rom nicht unbedingt auf Begeisterung stieß. Er knüpfte Kontakte zu den orthodoxen Kirchen und lernte so eine neue Facette christlichen Lebens kennen. Er stärkte die kleinen katholischen Gemeinden, für deren seelsorgerische Betreuung er verantwortlich war. Er rettete im 2. Weltkrieg hunderten Juden das Leben, besuchte aber auch selbstverständlich die italienischen Besatzungstruppen in Griechenland.
Im Dezember1944 wurde er dann als Nuntius nach Frankreich versetzt. Dort war die katholische Kirche in einer schwierigen Situation, weil sie zum großen Teil der Vichy-Regierung nahegestanden hatte, die mit dem Hitler-Regime kollaborierte. Roncalli galt als unbelastet und diplomatisch geschickt, so dass ihm eine Vermittlung und Klärung zugetraut wurde. Er selbst kommentierte das mit den Worten: „Wenn die Pferde nicht mehr können, nimmt man die Esel.“ Schließlich wurde er, nachdem er seine Mission mit einigem Erfolg beendet hatte, 1953 zum Bischof von Venedig ernannt. Damit hatte er zum ersten Mal in seinem Leben eine Stellung, in der er sich hauptsächlich um die Seelsorge kümmern konnte; etwas, das er sich sein Leben lang gewünscht hatte.
1958 starb der Papst Pius XII.. Nach seinem langen Pontifikat war die Kirche in einem Zustand der inneren Unruhe. Das Kardinalskollegium war ungewöhnlich klein und überaltert, so dass unklar war, wer der nächste Papst werden würde. In dieser Situation wurde der schon relativ alte Roncalli gewählt als ein Kompromisskandidat zwischen Konservativen und Fortschrittlichen. Wegen seines Alters erwartete man keine großen Entscheidungen mehr von ihm. Schon mit seiner Namensgebung als Johannes XXIII. machte er aber deutlich, dass er wesentlich von der Linie seiner Vorgänger abweichen wollte.
Und schon bald nach seinem Amtsantritt verkündete er seinen Plan von einem großen Konzil, das die Lehre der Kirche für die heutige Zeit neu interpretieren und verkündigen sollte. Bereits im Vorfeld des Konzils wurde klar, welch große Erwartungen Katholiken in aller Welt, vom Laien bis zum Bischof, mit diesem Konzil verbanden. Gleichzeitig versuchten die Kurienkardinäle, alles so zu organisieren, dass eben keine neuen und weitreichenden Entscheidungen getroffen werden konnten. Bei der Eröffnung des Konzils am 11. Oktober 1962 hielt er Johannes XXIII. eine große Rede, die dem Konzil seine Richtung wies und alle konservativen Bedenken zugunsten einer offenen und der Zukunft zugewandten Diskussion beiseite schob. Mit einiger Berechtigung kann diese Rede als wichtigstes Ereignis nicht nur seines Pontifikates, sondern seines ganzen Lebens bezeichnet werden. In ihr spiegelt sich sein ganzer Optimismus und sein Vertrauen auf die Führung der Kirche durch den heiligen Geist.
Er sagte: „Wir aber sind völlig anderer Meinung als alle diese Unglückspropheten. In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse, durch welche die Menschheit in eine neue Ordnung einzutreten scheint, muss man viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen. Dieser verfolgt mit dem Ablauf der Zeiten, durch die Werke der Menschen und meistens über ihre Erwartungen hinaus sein eigenes Ziel. (...) Die Hauptaufgabe des Konzils liegt darin, das heilige Überlieferungsgut der christlichen Lehre mit wirksamen Methoden zu bewahren und zu erklären. Doch es ist nicht unsere Aufgabe, diesen kostbaren Schatz nur zu bewahren, als ob wir uns einzig und allein für das interessieren, was alt ist, sondern wir wollen jetzt freudig und furchtlos an das Werk gehen, das unsere Zeit erfordert, und den Weg fortsetzen, den die Kirche seit zwanzig Jahrhunderten zurückgelegt hat.“
Johannes XXIII. hat das Ende des Konzils nicht mehr erlebt. Am 3. Juni 1963 starb er an einer Krebserkrankung. Seine Anstöße wurde jedoch aufgenommen, und das Konzil zu Ende geführt. Es ermöglichte die Ankunft der katholischen Kirche in der Gedankenwelt des 20. Jahrhunderts, die Entwicklung kraftvoller neuer Zweige der Kirche in Asien und Afrika und eine Führungsrolle der Kirche im notwendigen Dialog der Religionen unserer Zeit. Auch wenn unsere Probleme andere sind als vor 50 Jahren, können wir doch zwei Dinge von Johannes XXIII. lernen: sein unerschütterliches Vertrauen darein, dass Gott die Kirche zu einem guten Ziel führen wird, und seine Offenheit, mit der er den unterschiedlichsten Denkansätzen begegnete.
Matthias Petzold, Juli 2009