Jazzmusik und franziskanische Spiritualität
(Geschrieben im August 2014 als Beitrag für ein Buch des Franziskanerpaters Hermann Schallück)

Mein Name ist Matthias Petzold und ich bin Jazzmusiker: Saxophonist, Improvisator, Komponist, Bandleiter. Ebenfalls gehöre ich durch mein Versprechen im OFS, der Franziskanischen Laiengemeinschaft, zur franziskanischen Familie.

Jazzmusiker wurde ich im Alter von 14 Jahren, als ich zufällig die Radiosendung „Jazzplatte der Woche“ im SWF 2 hörte und beschloss, herauszufinden, was es mit diesen faszinierenden und manchmal sperrigen Klängen auf sich hatte. Franziskaner wurde ich mit 26, als meine Frau und ich, ziemlich frisch verheiratet, mit knapp einjähriger Tochter und seit kurzem erst wieder mit regelmäßigem Kontakt zur Kirche, in einem Vortrag über den 3. Orden der Franziskaner saßen. Sofort war uns klar: da gehören wir hin, da sind wir mit unseren Anliegen und Eigenheiten gut aufgehoben.

Aber woran liegt das? Warum fühlt sich ein improvisierender Musiker von der franziskanischen Geisteshaltung angezogen? Und warum waren die alten Damen in der OFS-Gemeinschaft meiner Heimatstadt so ehrlich und spontan erfreut über meine Saxophonimprovisationen, die ich schon bald um Gottesdienst beisteuerte? Ich will versuchen eine Antwort zu geben, indem ich einige Punkte beleuchte, die sowohl im Jazz als auch im franziskanischen Leben eine Rolle spielen.

 

Die Kreativität

Was mich als Musiker bzw. Künstler am unmittelbarsten und nachhaltigsten an Franziskus fasziniert hat, war seine kreative Art, sein Leben zu gestalten und Probleme anzugehen. Viele Wendepunkte in seinem Leben sind verbunden mit überraschenden und bildkräftigen Ideen und Handlungen, mit denen er die gesamte Situation umdrehte und sowohl für sein eigenes Leben als auch für die Gesellschaft, in der er lebte, ganz neue Lösungen fand.

Er begegnete einem Aussätzigen, und anstatt ihm nur etwas Geld zu geben und weiter zu reiten, stieg er vom Pferd, umarmte ihn und gab dadurch beider Leben eine neue Bedeutung. Er wurde von seinem Vater zur Rechenschaft gezogen, und statt ihm entweder zu gehorchen oder sich auf eine Auseinandersetzung mit ihm einzulassen, gab er ihm seine Kleider zurück und stand nackt auf dem Domplatz von Assisi. Er sah die verfallene Kirche von St. Damiano und vernahm den Ruf Jesu: „Stelle mein Haus wieder her“, und anstatt zu reden oder Geld zu sammeln fing er sofort und eigenhändig an, die Kirche instand zu setzen. Er war sich unsicher, welchen Weg er an einer Kreuzung nehmen sollt, also drehte er sich so lange im Kreis, bis er vor Schwindel niedersank und dann die Richtung einschlug, in die er gefallen war.

Ob man an die Vogelpredigt, den Besuch beim Sultan, die Entstehung des Sonnengesangs, seinen in zahlreichen Erzählungen übermittelten Umgang mit seinen Brüdern oder an die ritualhafte Inszenierung seines Todes denkt: immer brach er aus den Bahnen des Gewohnten und Erwarteten aus und schuf neue Wege, die Welt zu sehen, zu erleben und zu verändern.

Dabei fallen neben seiner souveränen und heiteren Missachtung aller Konventionen zwei Dinge besonders auf: die selbstverständliche und unhinterfragbare Treue zu dem, was er vor seinem Gewissen für richtig erkannt hatte; und der völlige Verzicht auf Kritik an anderen. Er wollte die Menschen mit seinen Ideen überzeugen, nicht sie ihnen aufzwingen. Beides betonte er immer wieder in aller Klarheit. In seinem Testament schreibt er, dass niemand ihm gezeigt hätte, was er tun solle, sondern dass der Allerhöchste selbst die Quelle seiner Lebensform sei. Und seinen Brüdern schärfte er immer wieder ein, dass sie keine Machtpositionen einnehmen, sondern nur durch ihr Beispiel wirken sollten.

Franziskus wollte die Welt nicht durch die Bekämpfung des Bösen verändern, sondern durch die Neuschaffung von Gutem. Hierin trifft er sich mit vielen heutigen Künstlern, die ihre Arbeit als spirituellen Beitrag zu einer Umgestaltung der Welt verstehen. Sie setzen auf die verändernde und lebensgestaltende Kraft der Kreativität, die Konflikte überwindet und neue Wege in die Zukunft erschließt.

 

Improvisation

Nun gibt es ja viele Arten, kreativ zu sein und Ideen zu entwickeln. In der europäischen Kultur hat dabei immer die Schriftlichkeit eine große Rolle gespielt. Der Autor, der ein großes Werk verfasst; der Philosoph, der ein komplexes Denksystem schriftlich niederlegt; der Komponist, der in seinem Arbeitszimmer Sinfonien oder Opern komponiert: sie sind die Prototypen des abendländischen Kulturideals.

Als europäischer Jazzmusiker kenne und schätze ich durchaus den Wert der so entstandenen Kulturform. Ich weiß aber auch, dass in tieferen und existenziell bedeutsameren Schichten der menschlichen Seele noch etwas anderes liegt: der spontane Fluss der Ideen; das direkte Schöpfen und Gestalten aus dem Bereich des Unbewussten und Ungeformten; das Entstehen von gemeinschaftlichen Visionen aus der Begegnung unterschiedlicher Menschen. Kurz: das Improvisatorische, dass aller schriftlichen Fixierung vorausgeht und das ja den Grundimpuls des Jazz ausmacht.

Auch Franziskus entwickelte seine Ideen immer spontan und auf die jeweilige Situation bezogen.  Er bereitete seine Predigten nie vor, und es wird mehrfach berichtet, dass ihm dann gelegentlich auch nichts einfiel und er darauf verzichtete, etwas zu sagen. Oft unterbrach er seine Ansprachen mit Liedern oder Tanzschritten. Ein Mitbruder erzählte, dass er mit zwei Stöcken eine Geige imitiert habe und dabei Loblieder zu Gott sang.

Und er stand der schriftlichen Festlegung, sei es durch die Theologie, sei es durch das Kirchenrecht, immer skeptisch gegenüber. Er ließ es zwar zu, weil er die praktische Nützlichkeit dieser Kulturtechniken einsah, aber er wusste, dass das eigentliche Leben nie in Texten eingefangen oder konserviert werden kann. Im Brief an den hl. Antonius, der im Orden auch als Theologe und Lehrer wirkte, schrieb er: „Ich erlaube Dir, dass du den Brüdern die heilige Theologie vorträgst, wenn du nur nicht durch dieses Studium den Geist des Gebetes und der Hingabe auslöschst, wie es in der Regel steht.“ Also: erlaubt ja, aber das Wesentliche liegt im Leben und in der lebendigen Beziehung zu Gott und den Menschen.

Gegen Ende seines Lebens sagte er zu seinen Brüdern: “Brüder, lasst uns anfangen, denn bisher haben wir nur sehr wenig oder sogar nichts getan.” Dieser franziskanische Geist des Anfangs steht für mich in enger Beziehung zur Jazzmusik, die ja auch in jedem Konzert neu entsteht und das bis dahin Geleistete hinter sich lässt.

 

Stilbildung

Man könnte jetzt den berechtigten Einwand erheben: Spontaneität und Verzicht auf schriftliche Fixierung schön und gut; aber auf welche Art und Weise hat Franziskus denn dann die  Botschaft seines Lebens weitergegeben?

Hier muss man auf einen eigentümlichen und sogar irritierenden Punkt zu sprechen kommen, den Franziskus immer wieder hervorgehoben hat: die Beispielhaftigkeit des überzeugend gelebten Lebens. Immer wieder spricht er davon, dass die Brüder dies oder jenes tun oder lassen sollen „um des Beispiels willen“. Als er von einem Bruder bedrängt wird, doch endlich eine Ordensregel zu schreiben, zeigt er auf sich und sagt: „Hier ist deine Regel.“ Und sogar sein Sterben inszeniert er öffentlich im Kreise des gesamten Ordens, um den Brüdern seine Botschaft noch einmal deutlich einzuprägen. Später wurde diese Eigenheit verdichtet zu der Formel, Franziskus sei die „forma minorum“, also in seiner Person die Lebensregel seines Ordens.

In dieser Konsequenz wirkt das zunächst einmal merkwürdig. Wir erwarten im Bereich der Liebe, Hingabe und Frömmigkeit ja möglichst weitgehende Absichtslosigkeit und werden darin durch das Evangelium bestärkt, das bei religiösen Handlungen öffentlichkeitswirksame Inszenierungen als Heuchelei verurteilt. Deshalb muss man bei Franziskus genau hinschauen: in erster Linie sind alle seine Handlungen zutiefst authentisch. Er tut, was er für richtig hält, ohne auf die öffentliche Wirkung zu achten. Dabei handelt er auch spontan und ohne vorgefassten Plan. Erst in einem zweiten Schritt wird ihm dann bewusst, dass er gerade dadurch Menschen in Bewegung setzt, eine geistige Kraft entfaltet und einen Lebensstil prägt, an dem sich andere orientieren, aber auch reiben können. Jemand sagte mal sinngemäß: „Wenn Jesus das fleischgewordene Wort Gottes ist, dann sind die Heiligen fleischgewordene Kommentare zu diesem Wort.“ Genau das ist das Anliegen, das Franziskus hat. Mit seinem ganzen Leben antwortet er auf die Begegnung mit Jesus, und dadurch wird sein Leben zu einer konkreten und  beispielgebenden Auslegung des Evangeliums.

Hier besteht wieder ein Übergang zum Selbstverständnis vieler zeitgenössischer Künstler, gerade auch der Jazzmusiker. Wie Franziskus einen Lebensstil prägte, der in der Welt wirksam werden soll, ist es das Ziel von Künstlern, einen Stil hervorzubringen, der die eigenen Gefühle und Gedanken ausdrückt und vermittelt. Dieser Stil ist nur dann gelungen, wenn er wirklich authentisch ist. Aber er muss auch seine eigene Gestalt entwickeln, die in unterschiedlichen Zusammenhängen bestehen bleibt und vor aller schriftlichen Festlegung die Botschaft dieses Künstlers trägt und mitteilt.

Dieser Stil liegt gerade für Jazzmusiker auch nicht in der sachlich greifbaren Struktur eines Musikstücks. Er ist vielmehr gegeben in der undefinierbaren Gesamtausstrahlung, die ein Künstler als Person und durch seine künstlerischen Äußerungen erzeugt. Als der Jazztrompeter Miles Davis gefragt wurde, was er denn als seinen bleibenden Beitrag in dieser Welt ansehen würde, meinte er: „My sound.“ Also seinen Klang, seinen unverwechselbaren, sensiblen und ausdrucksstarken Trompetenton, der unmittelbar  erkennbar ist. Vielleicht lässt sich das am ehesten mit den Äußerungen von Franziskus vergleichen, in denen er vom „Duft“ bestimmter Worte und Situationen spricht.

Man kann in diesem Zusammenhang auch an den Aktionskünstler Josef Beuys denken, der jeden Menschen als Künstler betrachtete, der seinem Leben als „sozialer Plastik“ Gestalt gibt. Begegnung war für Beuys ein Austausch dieser sozialen Plastiken, die sich dadurch gegenseitig beeinflussen. Demnach hat Franziskus also sein Leben als eine Plastik gestaltet, von der er wollte, dass sie Christus immer ähnlicher sehen sollte, die aber dennoch oder vielmehr gerade deshalb ganz individuell und einzigartig ist.

 

Fazit

Wie die oben ausgeführten Gedanken zeigen, gibt es für mich persönlich einen natürlichen Schnittpunkt, an dem sich Jazzmusik und franziskanische Spiritualität treffen. Ich versuche, aus dieser Grunderfahrung heraus mein Leben und meine musikalische Arbeit zu gestalten. Ich bin froh, auf diesem Weg gehen zu können, der mir Inspiration und Kraft gibt. Und ich freue mich, dass ich viele positive Rückmeldungen von franziskanisch gesinnten Schwestern und Brüdern erhalte, die sich von der so entstandenen Musik berührt fühlen.

 

Zurück zum Seitenanfang

 

 

 

 

 

005

Franziskus Jazz