Geschichte der franziskanischen Laienbewegung
Für eine Gemeinschaft, die sich so sehr auf eine geschichtliche Person und die von ihr ausgehende Bewegung stützt, wie es beim Franziskanerorden der Fall ist, ist es immer wichtig, die eigene Geschichte zu kennen. Auch die komplexe und in mancher Hinsicht schwierige Situation der Franziskanischen Gemeinschaft (OFS) in Westeuropa ist nur zu verstehen durch eine Kenntnis der Wandlungen, die die franziskanische Laienbewegung bis heute vollzogen hat und immer weiter vollzieht. Ich habe also versucht, die Geschichte der Franziskanischen Gemeinschaft (beziehungsweise des Dritten Ordens, des OFS, der Terziarenbewegung, der franziskanischen Laien ...) in möglichst knapper Form darzustellen. Ich stütze mich dabei hauptsächlich auf das Buch “Die Geschichte der franziskanischen Laienbewegung” von Heribert Roggen (Dietrich-Coelde-Verlag 1971), außerdem auf die Schriften des heiligen Franziskus und die Biographie von Thomas von Celano.
Ich habe dabei die gesamte Geschichte von Franziskus an in vier Abschnitte eingeteilt:
1. Die Frühzeit (13. Jahrh.)
2. Verfestigung, Niedergang und Individualismus (14. - 18. Jahrh.)
3. Wiederbelebung der franziskanischen Ideale (19. Jahrh.)
4. Neuentdeckung der Laienspiritualität (20. Jahrh.)
Die Frühzeit (13. Jahrh.)
Wenn man zurückschaut auf die Zeit, in der Franziskus und seine ersten Gefährten ihre Gemeinschaft gründeten, macht man eine überraschende Entdeckung: diese erste Gemeinschaft war nämlich eine Laiengemeinschaft! Franziskus und seine Freunde verstanden sich als einfache Christen, die nicht zum Klerus gehören, sondern ihren Glauben auf eine neue und radikale Art leben wollten. In dieser ersten Gemeinschaft gab es nur einen einzigen Priester, Petrus Catanii, aus dessen Weihe aber keine Sonderstellung abgeleitet wurde. Franziskus grenzte sich bewusst gegen die bestehenden klerikalen Orden ab. Er wehrte sich dagegen, in die bestehenden Strukturen eingegliedert zu werden, und er wollte auch keine Klöster gründen. Die Brüder sollten in kleinen Gemeinschaften mitten unter den Menschen wohnen, und an der Seite der Armen leben, beten und arbeiten.
Von Anfang an gab es auch Menschen, die die franziskanischen Ideale befolgen wollten, aber den Schritt zur Ehelosigkeit und zur absoluten Armut nicht tun konnten, etwa weil sie verheiratet waren und Kinder hatten oder weil sie für Angehörige sorgen mussten. Auch diesen Menschen wandte sich Franziskus zu, er wurde von ihnen unterstützt, und er betrachtete sie sozusagen als erweiterten Raum seiner Gemeinschaft.
Schon zu seinen Lebzeiten setzte im Orden aber eine immer stärker werdende Klerikalisierung ein, die Franziskus nicht verhindern konnte. Es wurde eine juristisch genaue Regel verfasst, die die alte Regel ablöste, die im wesentlichen aus Evangeliumszitaten bestanden hatte. Es traten immer mehr Priester in den Orden ein, die aufgrund ihrer höheren Bildung sehr bald die Führungspositionen besetzten. Inhaltlich verlagerte sich der Schwerpunkt weg vom Dienst an den Armen hin zu Predigt und Theologie. (Diesen Vorgang sollte man allerdings nicht nur unter dem Aspekt der Abkehr von den ursprünglichen Idealen sehen, sondern auch unter dem gerade heutzutage immer wieder betonten Aspekt der realistischen Durchsetzung und möglichst weiten Verbreitung dieser Ideale. Also: “Fundis” kontra “Realos”.)
Durch diese Entwicklung wurde es nötig, auch der weiterhin bestehenden Bewegung franziskanisch gesinnter Laien eine eigene Struktur zu geben. 1289 gab Papst Nikolaus IV dem nun so genannten dritten Orden seine erste Regel. (Der “zweite Orden” ist der von der heiligen Klara gegründete franziskanische Frauenorden.) Seine Mitglieder bezeichnete man auch als “Terziaren” (von terzium: das Dritte). Die in der Regel von Nikolaus dem IV. aufgestellte Behauptung, Franziskus selber hätte den dritten Orden gegründet, stimmt allerdings historisch nicht. Der dritte Orden wurde nötig, weil sich der erste Orden in vieler Hinsicht den älteren klösterlichen Ordensgemeinschaften angepasst hatte. Die franziskanische Bewegung, die ursprünglich eine reine Laienbewegung gewesen war, hatte sich also aufgeteilt in einen klösterlichen, also klerikalen Zweig und einen Laienzweig, der vom ersten Orden pastoral betreut wurde.
Diese franziskanischen Laiengruppen des 13. Jahrhunderts trafen sich regelmäßig zum Gebet und zur Weiterbildung in Glaubensfragen, sie engagierten sich sozial, indem sie z.B. die ersten Krankenhäuser in Europa gründeten, sie weigerten sich Waffen zu tragen und Treueeide auf die Landesfürsten zu schwören. Gerade durch die beiden letzten Punkte wurden sie zu einer wirksamen gesellschaftlichen Bewegung, denn es war bis dahin unumschränktes Recht der Fürsten gewesen, Untertanen zum Kriegsdienst heranzuziehen, auch dann wenn es nur darum ging, Privatfehden mit den Nachbarfürsten auszutragen. Die Päpste unterstützen den dritten Orden, weil durch ihn die zahllosen Kleinkriege in ganz Europa eingedämmt wurden, und weil die vergleichsweise gute religiöse Bildung der Mitglieder die Verbreitung und Vertiefung des katholischen Glaubens in Europa stärkte.
Verfestigung, Niedergang und Individualismus (14. - 18. Jahrh.)
In den folgenden Jahrhunderten war man sich über die Stellung des dritten Ordens in der Kirche oft im unklaren. Man wusste nicht, ob man die Mitglieder zu den Ordensleuten rechnen sollte oder nicht. Schließlich einigte man sich darauf, sie halb als Laien und halb als Kleriker anzusehen. Diese Auseinandersetzung hatte vor allem mit der bevorzugten Rechtsstellung zu tun, die mit dem Klerikerstand verbunden war, und ging so am Wesen der franziskanischen Laienberufung völlig vorbei. Ein geistlicher Niedergang wurde dadurch ausgelöst, dass viele Gruppen den Schwung und die Begeisterung der ersten Jahrzehnte verloren hatten. Die Nachfolger der ersten Generationen beschränkten sich gelegentlich darauf, die im Laufe der Zeit erworbenen Besitztümer und Privilegien erbittert zu verteidigen.
Papst Leo X. machte schließlich den Streitigkeiten ein Ende, indem er 1517 dem dritten Orden alle Privilegien nahm und die Mitglieder zu einfachen Laien erklärte. Dieser Schritt ermöglichte in der Zeit der Reformation eine Rückbesinnung auf die franziskanische Spiritualität, die zu einer Wiederbelebung vieler Gruppen führte, die vor allem von Spanien ausging, aber auch in Deutschland und Österreich viele Früchte trug. Diesen erneuerten Gruppen fehlte aber die gesellschaftliche und soziale Dynamik, die die Laiengruppen des 13. Jahrhunderts gekennzeichnet hatte. Es ging nun vor allem um persönliche Heiligung und um die Entwicklung des Gebebetslebens. Der dritte Orden folgte damit einem allgemeinen Zug dieser Zeit, die insgesamt auf eine Vertiefung mystischer Erfahrungen und eine individualistische Frömmigkeit ausgerichtet war. (In Spanien wirkten zu dieser Zeit u.a. die Mystiker Johannes vom Kreuz und Teresa von Avila)
Trotz all dieser Schwierigkeiten und vom Zeitgeist geprägten Wandlungen gab es in allen diesen Jahrhunderten im dritten Orden immer auch Engagement für die Armen und Kranken, und das aufrichtige Bemühen vieler Menschen, sich in Beruf und Familie vom Geist der Nächstenliebe leiten zu lassen. Es wurden Gefangene aus islamischer Haft freigekauft und Krankenhäuser unterhalten, viele Gruppen setzten sich für die Erziehung und Ausbildung Jugendlicher ein.
Wiederbelebung der franzikanischen Ideale (19. Jahrh.)
Einen neuen Aufschwung für den dritten Orden gab es im 19. Jahrhundert, als die franziskanischen Ideale eine zeitgemäße Antwort auf die gesellschaftlichen Probleme boten, die durch die Industrialisierung entstanden waren. Vor allem Papst Leo XIII. förderte die franziskanische Laienbewegung und verfasste im Jahr 1893 eine neue Regel, die den dritten Orden zu einer Massenbewegung machen sollte.
Während sich der Papst aber in seiner Sozialenzyklika “Rerum Novarum” ganz entschieden auch politisch für die Rechte der Armen und der Arbeiter einsetzte und die Gründung katholischer Gewerkschaften förderte, wurde der dritte Orden durch die neue Regel in einen unpolitischen frommen Verein umgewandelt. Ziel des dritten Ordens war jetzt private Frömmigkeit im bescheidenen Rahmen (es bestand die Verpflichtung, 10 Vaterunser am Tag zu beten), Treue gegenüber der kirchlichen Hierarchie und bürgerlich-gesetzestreues Verhalten. Das immer noch geltende Verbot, als Drittordensmitglied Waffen zu tragen, wurde aufgehoben, um die Mitglieder nicht mit bestehender Wehrpflicht in ihren Heimatländern in Konflikt zu bringen.
Offensichtlich sah der Papst in dem so umgestalteten dritten Orden eine spirituelle Ergänzung zu seinen politischen Äußerungen. Der franziskanischen Laienbewegung erwies er damit aber keinen guten Dienst. Der dritte Orden wurde zwar tatsächlich zu einer Massenbewegung mit zeitweise über drei Millionen Mitgliedern weltweit, aber Spiritualität und Gemeinschaft blieben oft flach und hingen sehr stark vom geistlichen Assistenten, dem sogenannten “Drittordensdirektor” ab. Der Rückzug aus allen politischen und sozialen Fragen führte dazu, dass die Gemeinschaft für sozial engagierte und aktive Menschen uninteressant wurde, und einen betulichen und altmodischen Charakter annahm. So geriet der 3. Orden trotz seiner Größe in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg in eine tiefe Identitätskrise.
Neuentdeckung der Laienspiritualität (20. Jahrh.)
Ausgelöst durch diese Krise entstand Mitte des 20. Jahrhunderts ein erneuertes Bewusstsein für die ganz eigene und unersetzliche Bedeutung, die die Laien für die Kirche haben. Im Zuge dieser Neuentdeckung der Aufgaben der Laien begannen die engagierten Miglieder des dritten Ordens über die Situation ihrer Gemeinschaft nachzudenken. Als das zweite Vatikanische Konzil allen Ordensgemeinschaften auftrug, ihre Regeln und Lebensweisen zu überprüfen und neu an der Spiritualität der Ordensgründer auszurichten, nutzen sie diese Chance und verfassten gemeinsam mit den geistlichen Assistenten aus den verschiedenen Zweigen des ersten Ordens eine neue Regel, die eine grundlegend neue Ausrichtung hatte. Diese Regel wurde im Jahr 1978 von Papst Paul VI. bestätigt. Der dritte Orden wurde offiziell in “Ordo Franciscanus Saecularis” (OFS - weltlicher franziskanischer Orden) umbenannt.
Seit den 1960er Jahren nannte sich der OFS in Deutschland „Franziskanische Gemeinschaft, um Missverständnisse zu vermeiden und den Laiencharakter der Gemeinschaft hervorzuheben. Seit einigen Jahren soll diese Bezeichnung aber auf Wunsch des Internationalen Rates nicht mehr verwendet werden, um die weltweite Einheit des OFS zu betonen.
Es geht in der neuen Regel nicht mehr nur darum, eine bestimmte Anzahl von Gebeten zu verrichten und eine lediglich passive Rolle als aufmerksamer Hörer der kirchlichen Verkündigung einzunehmen. Es soll vielmehr das ganze Leben in seinen geistlichen und weltlichen Aspekten vom Geist der franziskanischen Spiritualität geleitet werden. Die Regel spricht also nicht nur von der Bedeutung des Evangeliums, der Eucharistie und des Gebetes, sondern auch vom aktiven Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, von der geschwisterlichen Solidarität mit den Armen und Ausgegrenzten und vom bescheidenen und uneigennützigen Umgang mit Geld und Vermögen. Zum Verhalten gegenüber den Amtsträgern in der Kirche wird gesagt, dass die Mitglieder der Franziskanischen Gemeinschaft einen “offenen und vom Glauben getragenen Dialog” mit ihnen führen, und die Gemeinschaft mit der Kirche auch in schwierigen Situationen nicht aufgeben.
Ein wichtiger Punkt der neuen Regel war auch die Herauslösung der OFS-Gemeinschaften aus der alleinigen Verantwortung der drei Zweige des ersten Ordens. Bis dahin leiteten die Franziskaner, Minoriten und Kapuziner jeweils eigene dritte Orden, die meistens an den jeweiligen Klöstern angesiedelt waren. Mit der neuen Regel wurden alle drei Zweige des dritten Ordens zusammengefasst. Jede Gruppe wählt ihren eigenen Vorstand, der aus Laien besteht, und zu dem ein geistlicher Assistent hinzukommt. Dieser kann jetzt sowohl Franziskaner als auch Minorit oder Kapuziner sein, so dass die Existenz der Gruppen nicht mehr an ein bestimmtes Kloster gebunden ist. Die vielen Gemeinden des OFS in der ganzen Welt werden auf den höheren Ebenen zu Provinzen und dann zu Nationen zusammengefasst. Auf jeder Ebene gibt es gewählte Vorstände, die wie die Gemeindevorstände aus Laien und einem geistlichen Assistenten zusammengesetzt sind. In den letzten Jahren ist man dazu übergegangen, gegebenenfalls auch weibliche Assistenten aus Schwesternkongregationen zu beauftragen. An der Spitze des weltweiten OFS steht der Internationale Rat, der sich alle drei Jahre trifft.
Durch das Beispiel des heiligen Franziskus, die Gemeinschaft mit allen Gliedern der franziskanischen Familie und die Regel inspiriert, versuchen überall auf der Welt Angehörige der Franziskanischen Gemeinschaft, das Evangelium in ihren Alltag zu übersetzen und ihr Leben im Geist der Geschwisterlichkeit, der Dienstbereitschaft und des Gebetes zu führen, und eine neue Epoche in der langen Geschichte der franziskanischen Laienbewegung zu beginnen.
Matthias Petzold, März 2003