“Du hast mein Klagen in Tanzen verwandelt”  
Jazzmusik und Psalmengebet


Seit vielen Jahren bin ich als Jazzmusiker aktiv und habe meine kulturellen Wurzeln in dieser Musik. Gleichzeitig bin ich katholischer Christ und begegne in der Kirche hauptsächlich  ganz anderen Musikformen. Wiederholt habe ich versucht, dieses Spannungsverhältnis in meiner künstlerischen Arbeit zu thematisieren, z. B. in den Projekten “Psalmen und Lobgesänge für Chor und Jazz-Ensemble” und “Franziskunsinventionen”. Dabei hat sich für mich auch die Frage nach der Legitimität eines solchen Ansatzes gestellt. Jazz in der Kirche: Geht das überhaupt? Oder, anders gefragt: Was befähigt den Jazz dazu, Ausdruck und Träger einer christlichen Gottesbeziehung, ja letzten Endes eine musikalische Form des Gebetes zu sein? Ich möchte versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben, indem ich vom Geist und der Gebetshaltung der Psalmen ausgehe.

Die Psalmen sind Gebetstexte des alten Testaments, die der Tradition zufolge von König David verfasst wurden, und die zum Teil tatsächlich aus dieser Zeit stammen, zum Teil aber auch später entstanden sind. In ihnen kommen alle Gefühle zum Ausdruck, die der Gläubige Gott gegenüber haben kann: Lob, Dank und Jubel; aber auch Trauer, Klage, Anklage, Zorn bis hin zur Verzweiflung. Die Psalmen spielen im jüdischen Gottesdienst bis heute eine zentrale Rolle, und auch in der katholischen und orthodoxen Kirche gehören sie zum sogenannten Stundengebet, den regelmäßigen Gebetszeiten der Ordensleute und Priester. Wegen ihrer großen Bedeutung im Gottesdienst gibt es Psalmenvertonungen aus allen Epochen und in allen musikalischen Stilrichtungen.

 
Psalm 88, 2-6
Herr, Du Gott meines Heils, zu Dir schreie ich am Tag und bei Nacht.
Lass mein Gebet zu Dir dringen, wende Dein Ohr meinem Flehen zu!
Denn meine Seele ist gesättigt mit Leid, mein Leben ist dem Totenreich nahe.
Schon zähle ich zu denen, die hinabsinken ins Grab, bin wie ein Mann, dem alle Kraft genommen ist.
Ich bin zu den Toten hinweggerafft wie Erschlagene, die im Grabe ruhen;
an sie denkst Du nicht mehr, denn sie sind Deiner Hand entzogen.


Diese Klage über die eigene Ohnmacht, dieser Schrei zu Gott um Heil und Hilfe ist eine Grundaussage vieler Psalmen. Die ruhige Feierlichkeit der gregorianischen Melodien, in denen die Psalmen so oft gesungen werden, lässt uns manchmal vergessen, welch elementares Drama sich in diesen Texten abspielt. Hier gibt es keine höflichen oder frommen Floskeln, keine Bedenken in Bezug auf guten Geschmack oder künstlerischen Anstand. Hier zählt nur die existentielle Lebenserfahrung und ihr unmittelbarer Ausdruck.

Hierin treffen sich die Psalmen mit einer wichtigen Grundform des Jazz, dem Blues. Auch im Blues äußert sich das Leid und die Klage des Musikers in ursprünglicher Wucht. Der Klang der Stimme und der Instrumente folgt keinem genormten Schönheitsideal. In der Expressivität und Brüchigkeit des Klanges spiegelt sich die Persönlichkeit des Musikers mit ihrer unverwechselbaren Individualität. Die gefühlsmäßige Nähe der verschleppten und versklavten Schwarzen in den USA zum biblischen Volk Israel, das ja auch immer wieder Vertreibung und Exil erleiden musste, zeigt sich auch in der jazzverwandten schwarzen Kirchenmusik, den Gospels und Spirituals, in denen die Erfahrung Israels mit der Sklaverei in Ägypten oder der babylonischen Gefangenschaft eine große Rolle spielt. (z.B. “Go down, Moses”)

 
Psalm 30, 2-4; 9; 12-13
Ich will Dich rühmen Herr, denn Du hast mich aus der Tiefe gezogen
und lässt meine Feinde nicht über mich triumphieren.
Herr, mein Gott, ich habe zu Dir geschrien und Du hast mich geheilt.
Herr, Du hast mich herausgeholt aus dem Reich des Todes,
aus der Schar der Todgeweihten mich zum Leben gerufen.
Zu Dir Herr, rief ich um Hilfe, ich flehte meinen Herrn um Gnade an.
Da hast Du mein Klagen in Tanzen verwandelt,
hast mir das Trauergewand ausgezogen und mich mit Freude umgürtet.
Darum singt Dir mein Herz und will nicht verstummen.
Herr, mein Gott, ich will Dir danken in Ewigkeit.


Aber die Psalmen bleiben nicht bei dieser Klage stehen. Gerade das Eingeständnis der eigenen Schwäche und der Mut, die eigene Persönlichkeit mit all ihren Brüchen und Ängsten vor Gott zu stellen ermöglichen das rettende Eingreifen Gottes. Auch wenn sich der Psalmist von den Stürmen des Lebens bedrängt fühlt, weiß er sein Leben doch in Gottes Hand.

Dieser direkte Bezug zu Gott und das Vertrauen auf seine Hilfe ist in einer hauptsächlich instrumentalen Musik wie dem Jazz natürlich nicht unmittelbar enthalten. Aber auch im Jazz, und mehr noch im Blues geht aus der Klage eine neue Energie hervor, eine rhythmische und klangliche Energie, die Lebensmut erzeugt und wieder zurückführt zu einer Vitalität, die die Alltagsprobleme überwindet. Ganz ausdrücklich zeigt sich dieses Grundvertrauen auf Gott in den Texten der Gospelmusik  die ja stilistisch dem Jazz eng verwandt ist. Die Klage der Psalmen und des Blues unterscheidet sich in diesem Punkt grundlegend etwa vom “Weltschmerz” der deutschen Romantik, der ja immer eine resignative Grundstimmung hat und der vor der Welt, wie sie in der Realität nun einmal ist, zurückweicht.

Die Offenheit gegenüber der Zukunft, das Vertrauen auf das Leben, das dem Jazz zugrundeliegt, zeigt sich auch darin, dass diese Musik nie perfekt oder fertig ist. In der Improvisation zeigt sich der Musiker freimütig auch mit dem, was nicht so gut gelingt. Er vertraut darauf, dass die Ideen schon kommen werden, dass nicht er die Musik kontrollieren und beherrschen muss, sondern dass die Musik durch ihn hindurchfließt.


Psalm 98, 4-8
Jauchzt vor dem Herrn, alle Länder der Erde, freut euch, jubelt und singt!
Spielt dem Herrn mit der Harfe, mit der Harfe zu lautem Gesang!
Zum Schall der Trompeten und Hörner jauchzt vor dem Herrn, dem König!
Es brause das Meer und alles, was es erfüllt, der Erdkreis und seine Bewohner.
In die Hände klatschen sollen die Ströme, die Berge sollen jubeln im Chor.


Diese Erfahrung der Befreiung, des Getragen-Werdens, kann sich natürlich nicht nur in leisen Tönen äußern, weder in den Psalmen noch im Jazz. Sie verlangt nach einem kraftvollen Ausdruck, nach Rhythmus, Bewegung und lauten Klängen. Ja, auch die Lautstärke gehört dazu, wenn sie eben der persönlichen Energie des Musikers entspringt und nicht auf elektrischem Wege über eine Verstärkeranlage erzeugt wird.

Diese Erfahrung der Befreiung bleibt auch nicht im Bereich des lediglich Privaten stehen, sie erfasst die ganze Schöpfung, das Meer, den Erdkreis, die Berge und Ströme. Alles ist mit einbezogen in den Dank gegenüber dem Schöpfer und in die Freude am Leben und an der Errettung aus der Gefahr.

Und noch einen weiteren Schritt gibt es, den die Psalmen mit der Jazzmusik gemeinsam gehen: nach der Klage und ihrer Verwandlung in Tanz und neue Lebensenergie; nach dem Jubel und seiner Ausweitung auf das ganze Universum kehrt der Blick aus der kosmischen Weite wieder zurück in die alltägliche Wirklichkeit und führt hier zu politischen Konsequenzen.


Psalm 72, 1-7
Verleih dein Richteramt, o Gott, dem König,
dem Königssohn gib Dein gerechtes Walten.
Er regiere Dein Volk in Gerechtigkeit und Deine Armen durch rechtes Urteil.
Dann tragen die Berge Frieden für das Volk, und die Höhen Gerechtigkeit.
Er wird Recht verschaffen den Gebeugten im Volk, Hilfe bringen den Kindern der Armen,
er wird die Unterdrücker zermalmen.
Er soll leben, so lange die Sonne bleibt und der Mond, bis zu den fernsten Geschlechtern.
Er ströme wie Regen herab auf die Felder, wie Regenschauer, die die Erde benetzen.
Die Gerechtigkeit blühe auf in seinen Tagen, und großer Friede, bis der Mond nicht mehr da ist.


Wie der Psalmist von Gott die Ankunft des messianischen Friedensreiches erbittet, haben sich Jazzmusiker auch immer wieder für Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit eingesetzt: von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA über den stillen Protest der unkonventionellen Abweichler im Ostblock bis zur Konsum- und Medienkritik, die der Jazz alleine durch seine Existenz in unserer Gesellschaft darstellt. Wenn z.B. der Jazzbassist Charles Mingus in den 60er Jahren voller Inbrunst sang: “Oh Lord, don´t let them drop that atomic bomb on me!”, so ist das nicht nur eine exzentrische und etwas abwegige Äußerung eines Außenseiters, sondern knüpft, vielleicht unbewusst, aber doch deutlich an die biblische Gotteserfahrung an.

All das zeigt, dass die Jazzmusik die wesentlichen Elemente der jüdisch-christlichen Spiritualität in sich enthält. Für mich selber gehören sowohl das Christentum als auch der Jazz in jeweils eigener Weise zu den Wurzeln, die mein Leben tragen, und ich habe nie einen Widerspruch zwischen beiden Bereichen empfunden. Wie viele Jazzmusiker vor mir kann ich das, was mich in meiner Beziehung zu Gott bewegt, bruchlos mit den musikalischen Mitteln des Jazz zum Ausdruck bringen. Wie es der Saxophonist Roland Kirk einmal gesagt hat: “God loves black sound!”

Matthias Petzold, Januar 2006


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