Im Jahre 1906 fand in Wien die sogenannte “atonale Revolution” statt. Arnold Schönberg und seine Mitstreiter verließen den Rahmen der traditionellen Harmonik und schrieben Kompositionen, die geprägt waren von Dissonanzen und von abstrakten und unsymetrischen Rhythmen. Auch an anderen Orten gab es ähnliche Bestrebungen junger Komponisten. Die so entstandene Musik, die die Richtung für die gesamte klassisch geprägte Kompositionsmusik des 20. Jahrhunderts vorgab, nannte und nennt man “Neue Musik” auch wenn sie mittlerweile schon mehr als hundert Jahre alt ist.
Dieser Artikel setzt sich mit dem Weg der “Neuen Musik” auseinander und beleuchtet ihre Grundprinzipien und ihre Unterschiede zu Jazz und jazzverwandter Musik, aber auch gegenüber der modernen bildenden Kunst (Malerei, Bildhauerei etc.). Dabei geht es auch um zukünftige denkbare Entwicklungen von Musik und die gesellschaftlichen Konzepte, die dahinterstehen.
Verweigerte Begegnung
Eine Kritik der “Neuen Musik”
Wenn man sich die Entwicklung der europäischen Kompositionsmusik als kreativer und zeitgenössischer Kunstform im 20. Jahrhundert einmal genau anschaut und sie mit derjenigen der bildenden Kunst vergleicht, springt einem die grundsätzliche Unterschiedlichkeit in der öffentlichen Wahrnehmung und Relevanz beider Kunstformen sofort ins Auge. Während Ausstellungen moderner Kunst von “klassische Moderne” bis “junge Avantgarde” ein großes und vielfältiges Publikum anziehen, in Millionen von Haushalten Drucke oder sogar Originale der Kunst des 20. Jahrhunderts hängen und der Kunstmarkt auch für wirklich zeitgenössische Werke immer neue Preisrekorde meldet, ist die sogenannte “Neue Musik” auf ein elitäres Nischendasein beschränkt. Zwar wird die klassische Musik vergangener Jahrhunderte nach wie vor gehört und bewundert; diejenigen aber, die sich als Fortentwickler dieser Tradition sehen, werden außerhalb eines engen Kreises von Anhängern kaum wahrgenommen.
Woran liegt die vollkommen unterschiedliche Entwicklung dieser beiden Kunstgattungen, die sich ja in früheren Epochen in stilistischer und gesellschaftlicher Hinsicht immer weitgehend parallel entwickelt haben? Meiner Ansicht nach liegt es an der unterschiedlichen Positionierung zu zwei entscheidenden kulturellen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts: zum einen die Begegnung der europäischen Tradition mit den Kulturen der südlichen Kontinente und zum anderen die Erfindung neuer Möglichkeiten für die Herstellung, Konservierung und Verbreitung von Kunstwerken, wie z.B. der Fotographie und der Schallplatte.
Bildende Kunst im 20. Jahrhundert
Bei der Entstehung der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts, der “modernen Kunst”, spielen beide Aspekte eine zentrale Rolle. Die Entdeckung und Verbreitung der Fotographie beraubte die Malerei ihrer bis dahin wichtigsten Aufgabe: der naturgetreuen Schilderung von Landschaften, Ereignissen und Personen. Die Künstler an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert nahmen die Herausforderung an und begannen, ein völlig neues Verständnis ihrer Aufgabe zu entwickeln. Zu Hilfe kamen ihnen dabei die bildnerischen Gestaltungen der afrikanischen und ozeanischen Kulturen, die im Gefolge des Kolonialismus zum ersten Mal in größerem Umfang in Europa zu sehen waren: Masken, Bilder, Stoffe, Kult- und Alltagsgegenstände. Weder der Expressionismus der Dresdener “Brücke”-Maler noch der Kubismus von Picasso und Georges Braques ist ohne diese Beeinflussung denkbar.
Diese Bereitschaft, sich auf eine Begegnung mit den angeblich primitiven Kulturen einzulassen, wurde in mehreren Schritten weiter vertieft. Während z.B. die Maler des Expressionismus noch mehr oder weniger auf einen exotischen Oberflächenreiz abhoben, beschäftigten sich die französischen Surrealisten in den 20er Jahren intensiv mit Mythen und Ritualen außereuropäischer Völker, um so ihr Verständnis von Kunst zu erweitern. Ein Maler wie Max Ernst interessierte sich ausdrücklich und sehr zum Ärger seiner amerikanischen Gastgeber für die Kultur der Indianer und zeigte sich davon begeistert. Im Zuge der Fluxus-Bewegung in den 60er Jahren schließlich übertrug Joseph Beuys die Rolle des Schamanen in den zentralasiatischen Kulturen auf sein eigenes künstlerisches Selbstverständnis und erreichte so eine neue Dimension einer Kunst, in der sich unterschiedliche Ansätze aus verschiedenen Erdteilen durchdringen und bereichern.
Diese Offenheit für die Begegnung mit dem Fremden, diese Bereitschaft, den hergebrachten Rahmen zu verlassen (was viele Künstler durchaus auch wörtlich umgesetzt haben) hat die moderne Kunst spannend und vielschichtig gemacht. Sie konnte Fragen aufgreifen, die viele Menschen bewegen, und ihnen eine bildnerische Gestaltung geben, die nicht auf Museen und elitäre Vernissagen beschränkt blieb, sondern auch die Alltags- und Unterhaltungskultur mit beeinflusste.
Der Weg der “Neuen Musik”
Dass die Neue Musik im 20. Jahrhundert so völlig andere Wege gehen würde als die “moderne Kunst” war keineswegs von vorneherein klar, sondern ist das Ergebnis einer Weichenstellung, die Ende der 20er Jahre getroffen und Ende der 60er Jahre noch einmal erneuert wurde. Etwa zwischen 1890 und 1928 gab es viele Parallelen in der Entwicklung von Musik und bildender Kunst. Im Jahre 1889 lernte der französische Komponist Claude Debussy die indonesische Gamelan-Musik während der Pariser Weltausstellung kennen und war begeistert. Sofort versuchte er, die Tonleitern dieser Musik auch für seine eigenen Kompositionen zu verwenden. Auch der Ragtime, ein Musikstil, der von schwarzen Pianisten im Süden der USA entwickelt worden war, interessierte ihn sehr und inspirierte ihn zu einigen Kompositionen. Zur selben Zeit schrieb der schon ältere tschechische Komponist Antonin Dvorcak während eines Amerikaaufenthaltes die Sinfonie “Aus der Neuen Welt”. In dieser verwendet er indianische und afroamerikanische Themen in einer Weise, die der Einbeziehung europäischer Volksmusik in den Kompositionen von Brahms, Mahler und Grieg entsprach.
Diese Offenheit für außereuropäische Musik setzte sich weiter fort und war eine wichtige Quelle für den Durchbruch zur Atonalität. So hat etwa Igor Strawinskys in seiner Ballettmusik “Sacre du Printemps” aus dem Jahre 1913 Einflüsse aus dem russisch-asiatischen Raum verarbeitet. Unter dem Eindruck der explosionsartigen Verbreitung der Jazzmusik in den 20er Jahren schrieben u.a. Strawinsky, Paul Hindemith und Ernst Krenek Kompositionen, die vom Jazz beeinflusst waren. In den USA versuchten George Gershwin, Paul Whiteman und Aaron Copland, einen amerikanischen Kompositionsstil unter Einbeziehung von Jazzelementen zu entwickeln. Mit der “Dreigroschenoper” schufen Berthold Brecht und Kurt Weill ein deutschsprachiges Musical zu einer Zeit, in der dieses Genre gerade erst im Begriff war, zu entstehen. Das Ende der 20er Jahre markiert dann jedoch zumindest in Europa eine deutliche Abwendung von all diesen Versuchen, eine Begegnung zwischen der europäischen und den außereuropäischen Musikkulturen herbeizuführen.
Wodurch kam es zu diesem Richtungswechsel, der die Neue Musik bis heute prägt? Meiner Ansicht nach ist es eine ganze Reihe von Faktoren, die eine tiefe und auch heute noch fast unüberwindliche Spaltung zwischen der Neuen Musik und den afroamerikanisch beeinflussten Musikstilen bewirkten.
1. Gegen Ende der 20er Jahre kam es zu einem zunehmenden Konservativismus im kulturellen und politischen Leben. So unterschiedliche Phänomene wie die brutal durchgesetzte Verdrängung der russischen Avantgarde durch den sozialistischen Realismus, das Erstarken der faschistischen Bewegungen und die damit zusammenhängende Forderung nach einer nationalbewussten Kunst sowie eine zunehmend konservative Haltung auch bei liberalen und progressiven Künstlern verbinden sich zum Bild eines Zeitgeistes, in dem die Vergewisserung der eigenen Traditionen und die Ablehnung oder das Desinteresse gegenüber dem Fremden eine große Rolle spielte. Auch Künstler, die jeder Nähe zu diktatorischen Regimen unverdächtig sind, verhielten sich so: Picasso gab seinen kubistischen Ansatz vorübergehend auf und malte Bilder, die an die Darstellungen aus der Antike anknüpften. Strawinsky und Hindemith beendeten ihre Beschäftigung mit dem Jazz und außereuropäischer Volksmusik und bezogen sich in ihren neuen Kompositionen auf die europäische Musikgeschichte. Bekannt sind z.B. Strawinskys Ballett “Pulcinella” und Hindemiths Oper “Mathis der Maler” und sein auf deutschen Volksliedern aufbauendes Bratschenkonzert “Der Schwanendreher”.
2. Die Künstler, die sich diesem Trend nicht anschließen wollten, vertrauten in starkem Maße konstruktivistischen und intellektuell durchgeformten Konzepten. Eine besondere Rolle spielte hier die sogenannte Zweite Wiener Schule mit den Komponisten Arnold Schönberg, Anton Webern und Alban Berg sowie die von Schönberg eingeführte Zwölftontechnik. Diese Technik sollte der atonalen Musik dadurch einen formalen Rahmen geben, dass jede Komposition auf einer Tonreihe aufgebaut war, in der die 12 Töne der chromatischen Tonleiter jeweils einmal vorkamen. Ein Ton durfte erst dann wieder verwendet werden, wenn alle anderen auch vorgekommen waren. Diese Kompositionstechnik führt zu einer strengen, vom Verstand geprägten Musik, deren Strukturen mit dem Ohr oft gar nicht zu erfassen sind, sondern nur in der Partitur erkannt werden können. Diese Kompositionsweise hatte in den folgenden Jahrzehnten einen überragenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der europäischen Kompositionsmusik. Dass diese dadurch in einem strikten Gegensatz zum Jazz mit seinen Grundelementen der Improvisation und der rhythmischen Intensität stand, versteht sich von selbst.
3. Die Experimente mit der Einbeziehung von Jazzelementen in den 20er Jahren hatten auch deutlich gemacht, dass diese Verbindung gar nicht so einfach herzustellen ist. Im Gegensatz zur bildenden Kunst, in der der Maler oder Bildhauer alleiniger Schöpfer des Kunstwerkes ist und Einflüsse so zusammenführen kann, wie er es möchte, ist das erklingende Musikstück immer Ergebnis eines Kollektivs. Der Komponist kann sich noch so sehr bemühen, Jazzelemente in seine Partitur zu integrieren; wenn das Orchester kein Gefühl für diesen Musikstil hat, wird das Ergebnis immer unbefriedigend sein. Das Musikgefühl und Stilempfinden eines Musikers ist aber in jahrzehntelanger Praxis gewachsen, es kann nicht einfach verändert werden. Ein großes Orchester ist in dieser Hinsicht besonders unbeweglich. Selbst wenn man also die in den 20er Jahren vorhandene eurozentristische Arroganz bis hin zu rassistischen Überlegenheitsgefühlen gegenüber der “Negermusik” beiseite lässt, wird klar, dass diese Versuche, eine Begegnung unterschiedlicher Musikkulturen auf der Basis der europäischen Orchestermusik zu erreichen, nicht wirklich überzeugen konnten. Wenn man heute etwa einen Ragtime von Strawinsky oder Hindemith hört, hat man das Gefühl, einen interessanten, aber etwas merkwürdigen Versuch mitzuerleben, sich einer Musikkultur zu nähern, die sowohl den europäischen Komponisten als auch den ausführenden Musikern letztlich fremd blieb.
4. Einen außerordentlich nachhaltigen und in vieler Hinsicht verheerenden Einfluss bis hinein in die Lehrpläne der Schulen übte der Frankfurter Soziologe und Musikkritiker Theodor W. Adorno aus. Adorno hielt alles Schöne und alle Gefühlsäußerungen in der Musik für das Ergebnis einer Kommerzialisierung, die die Musik in den Bereich der entfremdeten Warenwelt hineinzieht, den Hörer über den tatsächlichen Zustand der Gesellschaft hinwegtäuscht und dadurch der Stabilisierung des kapitalistischen Systems dient.
Für Adorno war die einzig mögliche Haltung der Musik eine fundamentale Gesellschafts- kritik, die durch kompromisslose Anwendung atonaler Gestaltungsprinzipien und durch streng logische, von jedem Gefühlsausdruck befreite Konstruktionen erreicht werden sollten. Ziel des Musikhörens war für ihn ausschließlich das bewusste und verstandesmäßige Erkennen der in der Musik angelegten Strukturen. Gefühle oder körperliche Impulse im Zusammenhang mit Musik verurteilte er heftig. Durch dieses Verständnis von Musik konnte Adorno in den afroamerikanischen Musikstilen keine anerkennenswerte Musik sehen konnte.
In der wütenden Ablehnung dieser Musik fällt allerdings vor allem Adornos fehlende Sachkenntnis auf. In seiner Einteilung der Hörertypen verwechselt er Jazz und Rock´n Roll und kennt noch nicht einmal die allereinfachsten Gestaltungskriterien der Jazzmusik. An anderer Stelle versteigt er sich zu der Aussage: “Das Ziel des Jazz ist die mechanische Reproduktion eines regressiven Moments, eine symbolische Kastration. 'Gib deine Männlichkeit auf, lass dich kastrieren', äfft und verkündet der eunuchenhafte Klang der Jazzbands, 'dann wirst du zur Belohnung in eine Bruderschaft aufgenommen, die das Mysterium der Impotenz mit dir teilt'.”
Der Weg der Jazzmusik
Während also auf der europäischen Seite eine merkwürdige und wenig passende Koalition aus Kulturtraditionalisten einerseits und einer konstruktivistisch orientierten Avantgarde andererseits die Jazzmusik ablehnte, entwickelte sich diese gegen Ende der 20er Jahre weiter und stellte ihre Gestaltungsprinzipien, die Improvisation, die individuelle Tonbildung und die rhythmische Intensität auf eine neue Grundlage.
In den 20er Jahren war es nämlich überhaupt nicht klar, ob die Improvisation als zentrales Merkmal des Jazz überhaupt von Dauer sein würde. In den ersten Jazzbands, deren Mitglieder oft keine Noten lesen konnten, war die Improvisation mehr oder weniger ein Mittel, die auswendig gespielten Stücke zu verlängern. Klang eine Improvisation gut, wurde sie auswendig immer wieder gespielt und so allmählich ein fester Bestandteil der Komposition, der sogar gelegentlich von anderen Musikern übernommen und nachgespielt wurde. Die Kompositionen von George Gershwin und Paul Whiteman wurden in der (weißen) amerikanischen Öffentlichkeit als eine Veredelung und Aufwertung des Jazz verstanden, der so von Schmutz und Unfertigkeit befreit wurde.
Erst Louis Armstrongs berühmte Aufnahmen mit seinen “Hot Five” und “Hot Seven” im Jahre 1928 stellten das Spontane und Improvisatorische des Jazz wieder klar in den Mittelpunkt. Mit großer kreativer Kraft präsentierte Armstrong seine Improvisationen nicht als Variation der Melodie, sondern als völlig neue Erfindung auf der Basis der Akkorde des Stückes. Sein erdiger und ausdrucksstarker Trompetenton wurde Vorbild für unzählige Jazzmusiker und wies dem Jazz so eine neue Richtung. Gleichzeitig fand der Komponist und Bandleader Duke Ellington einen Weg, Komposition und Improvisation zu verbinden, der im Jazz bis heute modellhaft ist. Er ließ den Musikern in seinen Kompositionen Freiraum, um ihre eigenen Ideen einzubringen, und er komponierte seine Stücke so, dass sie auf den Improvisationsstil seiner Solisten zugeschnitten waren.
Merkmal aller drei Grundelemente des Jazz (Improvisation, Groove, Sound) ist, dass sie nicht in einer Partitur aufgeschrieben werden können. Eine Improvisation ist ja ihrem Wesen nach nicht notiert, und rhythmische Intensität und individuelle Tonbildung lassen sich ebenfalls nicht in Noten festhalten. Die durch Armstrong, Ellington und andere bewirkte Weiterentwicklung des Jazz war also nur möglich durch die Verbreitung eines neuen Mediums: der Schallplatte. Bis heute ist der Tonträger (mittlerweile ja meistens die CD) das zentrale Medium, über das Musiker neue Stile kennen lernen und in dem alte Stile bewahrt werden. Noten haben im Jazz nur eine Hilfsfunktion, um das Aufführen von Stücken zu erleichtern. Jedem Jazzmusiker ist dabei aber klar, dass die “eigentliche” Musik nicht in den Noten, sondern im spontanen Zusammenspiel liegt.
Zwei Medien, zwei Musikstile
Zur Mitte der 30er Jahre standen sich also zwei unterschiedliche Formen des Musikmachens gegenüber, die eine grundsätzlich unterschiedliche Werteordnung in Bezug auf Musik mit der Verwendung unterschiedlicher Techniken der Weitergabe von Musik verknüpften:
Auf der einen Seite die europäische Kompositionsmusik, von ihren Verfechtern in nicht wirklich zutreffender Weise als E-Musik bezeichnet (denn selbstverständlich haben Komponisten wie Bach und Mozart auch ausgesprochene Unterhaltungsmusik geschrieben). Hier ist die Partitur das entscheidende Medium. Das musikalische Kunstwerk ist in der Partitur in bevorzugter Weise enthalten; sie hat einen Vorrang auch vor der konkreten Aufführung der Musik. Form, Struktur und Konstruktion sind die entscheidenden Merkmale, an denen sich der Wert der Musik misst. Die Frage, ob diese Musik in der Lage ist, Hörer anzusprechen, tritt völlig zurück, da es ein starkes Misstrauen gegenüber dem nicht akademisch gebildeten Hörer und gegenüber gefühlsmäßiger und körperlicher Wahrnehmung von Musik gibt. Paradoxerweise gibt es hier eine starke, historisch begründete Verbindung zwischen einem Kulturtraditionalismus, der sich weigert, seine aus dem 19. Jahrhundert stammenden Hörerwartungen aufzugeben, und einer Komponistenavantgarde, die für Aufführungen neuer Werke auf die in dieser Tradition stehenden Musiker zurückgreift, dabei aber konsequent atonale und konstruktivistische Gestaltungsprinzipien anwendet.
Auf der anderen Seite stehen die aus dem Jazz hervorgegangen afroamerikanischen Musikstile, die Rockmusik, die südamerikanische Musik, Reggae, Soul, Funk, bis hin zum Hip Hop. Diese Musikrichtungen brauchen keine Noten, die Musik wird über den Tonträger weiterverbreitet, da sich die wesentlichen Gestaltungsmittel dieser Musik nicht in Noten aufschreiben lassen. Obwohl diese Musik oft als U-Musik abgewertet wird, handelt es sich um künstlerisch gestaltete Musik, die sich mit existentiellen Problemen heutiger Menschen auseinandersetzt, Weltbilder und Lebensvisionen hervorbringt und oft genug außerordentlich komplex ist. Die Fähigkeit dieser Musik, direkt an körperliche Gefühle zu appellieren, beinhaltet allerdings die Gefahr der kommerziellen Ausschlachtung, der Nutzbarmachung als aufputschende oder einschläfernde Droge. Allerdings muss man zur Kenntnis nehmen, dass die kommerziellen Vermarktungsstrategien auch künstlerisch anspruchsvoller Musik aus diesem Bereich Möglichkeiten eröffnet haben, die sie im ideologisch verfestigten Konzertbetrieb der sogenannten E-Musik nie gehabt hätten.
Die unerfüllten Voraussagen der Neuen Musik
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten sich beide Musikformen innerhalb ihrer jeweiligen stilistischen Ansätze weiter. Dabei zeigte sich, dass zwei Voraussagen, die die Komponisten der Neuen Musik über die weitere musikgeschichtliche Entwicklung gemacht hatten, nicht zutrafen.
Nach diesen Voraussagen sollte der Einfluss des Jazz nur ein kurzfristiger und oberflächlicher sein, eine vorübergehende Mode eben. Tatsächlich aber entwickelte der Jazz immer neue und künstlerisch zunehmend anspruchsvolle Stilrichtungen sowie ein starkes Bewusstsein für die eigene Geschichte. Die aus dem Jazz hervorgehende Rockmusik prägte das musikalische Empfinden weiterer Generationen von Jugendlichen und verdrängte nicht nur den Schlager, der ja eine an die klassische Musik angelehnte Form der Unterhaltungsmusik ist, sondern brachte auch eindrucksvolle Kunstwerke von nachhaltigem Einfluss hervor.
Außerdem waren die Komponisten der Neuen Musik davon ausgegangen, dass sich die atonalen Gestaltungsmittel im allgemeinen Hörempfinden durchsetzen würden. Analog zu der Folge von Skandal und Gewöhnung, der das Schaffen vieler klassischer Komponisten im 18. und 19. Jahrhundert begleitete, wurde auch für die “Neue Musik” eine allgemeine Akzeptanz erwartet. “In 50 Jahren werden die Leute meine Stücke auf der Straße pfeifen”, hatte Arnold Schönberg gesagt. In den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg stellte sich diese Annahme aber zunehmend als falsch heraus. Die geforderte “Emanzipation der Dissonanz”, also die Befreiung vom tonalen Hören, trat nicht ein. Immer noch wird eine Dissonanz als Spannung und eine darauf folgende Konsonanz als Entspannung empfunden.
Gerade in diesem Punkt zeigt sich der Unterschied zwischen Neuer Musik und Moderner Kunst besonders deutlich: Die Bilder von Picasso, Kandinsky, Klee und den anderen Vertretern der klassischen Moderne haben tatsächlich nach anfänglicher Ablehnung großen öffentlichen Erfolg gehabt und das visuelle Empfinden der meisten Menschen und die Alltagskultur bis hin zur Werbegraphik geprägt. Die neuen Gestaltungstechniken, etwa die von dem Surrealisten Max Ernst entwickelten Techniken der Collage und der Frottage sind unentbehrliche Bestandteile einer Erziehung zur Kreativität im schulischen Kunstunterricht.
Ein neuer Begegnungsversuch in den 60er Jahren
Während viele Komponisten der Neuen Musik auf das zunehmende Auseinanderdriften dieser beiden stilistischen Konzepte mit der Forderung nach politischer Unterstützung und mehr öffentlicher Präsentation ihrer Musik reagierten, und die Verbreitung der afroamerikanischen Musikstile als Katastrophe für die europäische Kultur ansahen, gab es einige Komponisten, die den erneuten Kontakt mit dem Jazz suchten. Hier ragt vor allem der Kölner Komponist Bernd Alois Zimmermann heraus, der in seiner Oper “Die Soldaten” und in vielen anderen Kompositionen versuchte, Jazz und populäre Musik in seinen Kompositionsstil mit einzubeziehen. Seine Vorstellung von Zeit als einem Kontinuum, in dem sich alle Zeitebenen überlappen und aufeinander beziehen, hat eine enge Verbindung zum Zeiterleben in der Jazzimprovisation. Auch andere Komponisten versuchten in den 60er Jahren, mit der sogenannten “Aleatorik” improvisatorische Elemente in die Musik aufzunehmen. Sie bezogen Zufallsprinzipien und Freiräume für die Musiker in ihre Kompositionen mit ein. Karl-Heinz Stockhausen, einer der führenden Komponisten der Avantgarde, leitete gegen Ende der 60er Jahre sogar ein Improvisationsensemble.
Auf der anderen Seite gab es durch den Free Jazz eine Annäherung der Jazzmusiker an die atonalen Klänge der Neuen Musik. Die Jazzimprovisationen wurden von den bis dahin zu Grunde liegenden harmonischen Gerüsten und den durchgehenden Metren befreit; entscheidend war nun die spontane Interaktion, die auch geräuschhafte Elemente mit einbezog. Vor allem in Europa versuchten Jazzmusiker, eine eigenständige Variante des Free Jazz zu entwickeln, die in engem Kontakt zur Neuen Musik stand. Albert Mangelsdorff, Manfred Schoof, Gunter Hampel, Peter Brötzmann in Deutschland, Mischa Mengelberg und Willem Breuker in Holland, Evan Parker und John Surman in England und viele andere prägten den Klang dieser Musik.
Während der Free Jazz aber tatsächlich den Jazz in Europa selbständig, sozusagen erwachsen machte, und es auch heute noch Szenen frei improvisierende Musiker in vielen europäischen Großstädten gibt, gaben die Komponisten der Neuen Musik ihre Beschäftigung mit dem Jazz und anderen improvisatorischen Gestaltungsmitteln bald wieder auf. In den 70er und 80er Jahren verloren die avantgardistischen Konzepte an Kraft. Karl-Heinz Stockhausen begann, sein esoterisches Großwerk “Eine Woche aus Licht” zu schreiben, das in mancher Hinsicht zurück ins 19. Jahrhundert und zu Richard Wagners Musiktheaterkonzeption führt. Komponisten wie Hans-Werner Henze und Wolfgang Riehm, die sich als Bewahrer der Tradition der Orchestermusik sahen, prägten das Selbstverständnis der neueren Komponistengeneration. Die Werke Henzes und Riehms sind auf die traditionellen Besetzungen der Orchestermusik zugeschnitten, was ihre Aufführung erleichtert. Außerdem knüpfen sie trotz atonaler Kompositionsweise vom Höreindruck her an die Musik des 19. Jahrhunderts an, was sie auch für den klassischen Kulturbetrieb integrierbar macht.
Ein fortbestehender Graben
Die beiden von mir dargestellten Entwicklungslinien der Musik des 20. Jahrhunderts in Europa haben zu zwei völlig voneinander getrennten musikalischen Welten geführt, die nach weitgehend eigenen Gesetzmäßigkeiten leben. Dabei ist festzuhalten, dass die vom Jazz ausgehenden Musikformen das Musik- und Körpergefühl, den Bewegungsstil und das Zeitempfinden der meisten Menschen prägen. Wie bei jeder vitalen Kulturform gibt es in der afroamerikanischen Musik enge Beziehungen und gegenseitige Beeinflussungen zwischen Kunst und Gebrauchsmusik. Das Spektrum reicht von komplexer Konzertmusik im Bereich des Jazz über Rockmusik, die oft auch textlich und von der Inszenierung her anspruchsvoll ist, bis hin zu der seichten Berieselung in vielen Radiosendern.
Ein wichtiger Aspekt der afroamerikanischen Musik ist ihre Fähigkeit, sowohl kurzfristige Trends als auch tiefgreifende Problemstellungen der heutigen Zeit aufzugreifen und künstlerisch zu gestalten. Wie keine andere Musik zuvor ist sie außerdem in der Lage, unterschiedliche Einflüsse und Musikkulturen zu integrieren. In den letzten Jahren hat es z.B. sowohl im Jazz als auch in der populären Musik verstärkt eine Auseinandersetzung mit Stilelementen der orientalischen Musiktraditionen gegeben. Dies ist ein positiver Aspekt der Globalisierung und ein kreativer Gegenentwurf zum oft propagierten Kampf der Kulturen.
Die europäische Kompositionsmusik kapselt sich im Gegensatz dazu immer weiter ab. Obwohl sie politisch und mit großen Finanzmitteln unterstützt wird und die Lehrpläne der Schulen nach wie vor dominiert, ist sie im musikalischen Erleben der Menschen immer weniger verankert. Sie wird in zunehmendem Maße als eine in sich abgeschlossene, nicht mehr entwicklungsfähige Musiksprache empfunden, die vergleichbar mit den alten Sprachen Latein oder Altgriechisch ist. Natürlich ist es für das Verständnis der europäischen Kulturgeschichte wichtig, auch alte Sprachen zu lernen, und selbstverständlich gibt es in diesen Sprachen unersetzliche und zeitlos gültige Texte. Niemand aber würde versuchen, eine Diskussion über heutige Themen in einer dieser Sprachen zu führen. So ist es auch mit der klassischen Musik: auch die vielen Jugendlichen, die ein klassisches Orchesterinstrument lernen, hören außerhalb ihrer gezielten Beschäftigung mit dem Instrument und ihren wenigen Konzertbesuchen in der Regel keine klassische Musik, sondern populäre Musik, mit der sie sich auch identifizieren.
Die Neue Musik bildet ein wenig geliebtes Anhängsel der klassischen Musik, durchgesetzt als Pflichtprogramm bei “Jugend Musiziert”, als seltener Bestandteil von Abonnementskonzerten, als eher dröger Unterrichtsstoff in der gymnasialen Oberstufe, und ansonsten beschränkt auf Insiderveranstaltungen. Sie ist eingeklemmt zwischen dem eigenen utopisch-avantgardistischen Anspruch und dem kulturellen Traditionalismus des klassischen Musikbetriebs, in den sie integriert ist. Dieser dient ja in starkem Maße der bürgerlichen Selbstvergewisserung und der Abgrenzung der europäischen Kultur von den anderen Weltkulturen. Diese Situation führt dazu, dass viele Komponisten und Anhänger der Neuen Musik die Geschichte des 20. Jahrhunderts als einen einzigen Niedergang deuten, dem sich eine winzige Schar von Eingeweihten verzweifelt und vergeblich entgegenstemmt.
Ausblick in die Zukunft
Was aber bedeutet diese oben geschilderte Spaltung des musikalischen Lebens konkret für die Weiterentwicklung der europäischen Musik im 21. Jahrhundert? Meiner Ansicht nach ist die Neue Musik durch ihre Fixierung auf die Partiturschreibweise und das klassische Orchesterinstrumentarium sowie durch ihr Misstrauen gegenüber allen körperlichen Formen von Musikwahrnehmung nicht in der Lage, ein authentisch europäisches Bewusstsein mit Weltoffenheit und positiven Zukunftsvisionen zu verbinden. Die stilistischen Grundelemente des Jazz (Improvisation, rhythmische Intensität und individuelle Tonbildung) sind als stilistische Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu wichtig, um sie einfach zu ignorieren. Sie prägen auch zu stark das musikalische Empfinden der Hörer; dieser Entwicklungsschritt kann nicht wieder rückgängig gemacht werden.
Wenn es also einen Ansatz geben soll, europäische Traditionen für die Musik des 21. Jahrhunderts fruchtbar zu machen, so muss er den umgekehrten Weg gehen: auf der Basis des Jazz können sowohl die Partiturschreibweise als auch das klassische Orchester als Klangkörper neu gedeutet, verändert und mit anderen Stilelementen in Verbindung gebracht werden, um einen Brückenschlag zwischen der Musik früherer Jahrhunderte und der Musik der Zukunft zu erreichen.
Matthias Petzold, Mai 2008
Anmerkungen:
Beim erneuten Durchlesen des Textes sind mir einige Dinge aufgefallen, die eine Erklärung und Ergänzung nahe legen. Zum einen ist mir aufgefallen, dass sich meine Darstellung sowohl der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts als auch der heutigen Situation sehr stark auf die Verhältnisse in Deutschland bezieht. In Deutschland haben die Thesen Adornos und die Zwölftontechnik Arnold Schönbergs besonders nachhaltig gewirkt. Außerdem ist hier die politische Unterstützung des klassischen Konzertbetriebes und die Ausrichtung der schulischen Lehrpläne auf die klassische Musik besonders stark.
In anderen europäischen Ländern, vor allem England, Frankreich und Russland, war die Kompositionsmusik im 20. Jahrhundert nicht so sehr von konstruktivistischen Konzepten bestimmt, sondern schloss sich von vorneherein an die Konzertmusik des 19. Jahrhunderts an. Die Arbeiten von Benjamin Britten in England, Ravel, Milhaud und Messiaen in Frankreich sowie Prokofieff und Schostakowitsch in Russland können hierfür als Beispiel dienen. Kennzeichnend für diese Länder ist aber, dass der Gegensatz zwischen angeblicher E- und U-Musik in dieser Form nicht besteht, dass die jazzbeeinflussten Musikstile eine viel größere Anerkennung und öffentliche Würdigung erfahren, und dass die klassische Kompositionsmusik aufgefordert wird, sich einer Konkurrenzsituation zu stellen, in der sie für genügend Hörer verständlich bleiben muss.
Zum anderen gibt es auch in Deutschland mit der von Maurizio Kagel in Köln begründeten Richtung des “Neuen Musiktheaters” eine Komponistenschule, die improvisatorische Konzepte und die Auseinandersetzung mit populärer und außereuropäischer Musik in ihre Arbeit mit einbezieht. Hierzu zählen etwa die Komponisten Manos Tsangaris, Maria de Alvear und Carola Bauckholt. Kennzeichnend für diese Komponistenschule ist allerdings die starke Einbeziehung von Elementen des experimentellen Theaters. Musik ist hier nur ein Element unter anderen. Die gelegentliche Einbeziehung von populärer Musik erfolgt collagenhaft und spielt auf gesellschaftliche Realitäten an. Insofern löst dieser Ansatz, so interessant er sein mag, das von mir geschilderte stilistische Dilemma nicht. Hinzu kommt, dass diese Komponistengruppe innerhalb der klassischen Musikszene nur ein kleine, zwar durchaus beachtete, aber wenig einflussreiche Rolle spielt.
Ich bin mir bewusst, dass eine derart knappe Darstellung der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, wie ich sie oben gegeben habe, immer unvollständig und in gewisser Weise auch einseitig ist. Mir ging es darum, die Entstehung des Gegensatzes zwischen klassischer Konzertmusik und den afroamerikanischen Stilen darzustellen, die im Musikleben sowohl im Konzertbereich als auch an Schulen und Musikschulen täglich schmerzhaft zu spüren ist, und die sowohl die Weitergabe eines Musikbewusstseins an die junge Generation als auch die Entwicklung zukunftsfähiger Formen von Musik blockiert.
Matthias Petzold, Juni 2008
Zurück zum Seitenanfang