Komposition und Improvisation


Wer in Europa Jazzmusik macht, befindet sich immer auch im Spannungsfeld zweier sehr unterschiedlicher Arten, Musik zu machen. Ein wichtiger Teil dieser Spannung entsteht durch die beiden Pole Improvisation und Komposition. Für den Jazz ist die Improvisation eines der grundlegenden Wesensmerkmale. In der Improvisation geht es um den spontanen Fluss der Ideen, der keinem vorherbestimmten dramatischen Ablauf folgt, und um die Kommunikation der Musiker untereinander. Jeder Jazzmusiker betrachtet sich als kreativen Künstler, der seinen eigenständigen Beitrag zum Gesamtklang der Band leistet. Die so entstehende Musizierhaltung prägt nicht nur die daraus entstehende Musik, sondern auch Dinge, die scheinbar so fernstehen wie das Menschen- und Gesellschaftsbild oder das Zeitempfinden. In der klassischen europäischen Musik ist der Komponist die zentrale Person. Die Arbeitsweise “musikalische Ereignisse in Partiturform festzuhalten” (Manos Tsangaris) bildet über alle stilistischen Unterschiede hinweg die große Gemeinsamkeit der klassischen Musik vom Barock bis zur Moderne.

Jazzmusik in Europa muss sich, wenn sie nicht oberflächlich sein soll, mit dieser kompositorischen Tradition und den auf diesem Weg entstandenen Meisterwerken auseinandersetzen. Dabei stößt man auf das Problem, dass das Partiturschreiben fast zwangsläufig zu einer Art des Musikmachens führt, die dem Selbstverständnis des Jazz entgegengesetzt ist: das Komponieren friert die Zeit sozusagen ein. Abläufe werden wiederholbar gemacht und dadurch aus der unaufhaltsam und organisch verlaufenden Zeit, wie sie der Improvisator empfindet, herausgenommen. Die aufführenden Musiker dürfen selber nicht kreativ werden. Sie sind bloße Werkzeuge des Komponisten, dem allein die künstlerische Handlung zusteht. Außerdem bedarf es, um eine wiederholbare und werkgetreue Aufführung zu ermöglichen, einer strengen Hierarchie, die die Freiheit der Musiker eng begrenzt. Diesen Nachteilen gegenüber stehen die unerschöpflichen klanglichen, harmonischen und formalen Möglichkeiten, die sich nur mit der Partiturschreibweise erreichen lassen.

Man kann wegen der erwähnten Nachteile des Komponierens eine radikale Haltung einnehmen und nur noch die Improvisation als gestaltendes Element der Musik zulassen. Die Erfahrung hat aber gezeigt, dass auch hierbei Klischees entstehen, und sich gegen die Absicht der Musiker wiederholte Strukturen und Patterns herausbilden. Deshalb halte ich es für sinnvoll, auf die Möglichkeiten des Partiturschreibens nicht völlig zu verzichten, sondern sie in die Jazzmusik zu integrieren. Einige Komponisten, wie z.B. Klaus König, haben versucht, den Improvisationsstil der Bandmitglieder in ihre Stücke mit einzukomponieren. Aus meiner Sicht hat das allerdings den schweren Nachteil, dass die Musik nach Improvisation klingt, ohne es in Wirklichkeit zu sein. Außerdem stellt sich die Frage nach der Urheberschaft einer derartigen Komposition. Ist sie ein Werk des Komponisten oder ist sie dem Musiker zuzurechnen, dessen Improvisationsstil verarbeitet wurde? Schließlich ist es aus praktischen Gesichtspunkten problematisch, dass die Besetzung für eine Aufführung des Stückes immer gleich bleiben muss.

Mein eigener Ansatz geht deshalb in die entgegengesetzte Richtung. In den komponierten Teilen meiner Kompositionszyklen “Psalmen und Lobgesänge” und “Pangäa” bemühe ich mich um eine möglichst dichte und klar formulierte musikalische Aussage, in die ich nur meinen eigenen Stil einbringe. In diesen Teilen haben die Musiker tatsächlich eine Rolle, die der eines klassischen Orchestermusikers entspricht, und sind bis zu einem gewissen Grad auch austauschbar. Dazwischen stehen die Improvisationsteile, die zwar durch den gemeinsamen Groove und die Harmonik mit der Komposition verbunden sind, dem Solisten aber völligen Freiraum zur Gestaltung der Improvisation lassen. In den komponierten Backgrounds schließlich treten Komponist und Improvisator in einen Dialog miteinander, in den beide ihre Persönlichkeit einbringen.

Diese Arbeitsweise hat den Vorteil, dass sie Aufführungen mit unterschiedlichen Musikern ermöglicht, die völlig verschieden voneinander sein können. Sie lassen es auch zu, dass ich als Komponist die Möglichkeiten des Partiturschreibens weitgehend ausnutze und eine ganz eigene kompositorische Handschrift entwickele. Im formalen Bereich entsteht so eine epische, fließende Struktur, in der unterschiedliche Formteile sich abwechseln, und die dem Zeitempfinden des Jazz besser entspricht als allzu komplexe und dramatische Abläufe. Man kann sagen, dass die Einbeziehung der europäischen Kompositionstradition in den Jazz eine der interessantesten Aufgaben der europäischen Jazzszene ist. Viel Spaß beim Komponieren, Improvisieren und natürlich beim Zuhören.


Matthias Petzold (April 2000)


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